„Abundantia“ (Überfluss) von Ferdinand Wagner (1847-1927)
„Abundantia“ (Überfluss) von Ferdinand Wagner (1847-1927)
Versuch einer Interpretation
Das Monumentalgemälde „Abundantia“ (Überfluss) hat Ferdinand Wagner (1847-1927) um das Jahr 1900 geschaffen. Es ist nicht signiert. Durch Briefwechsel ist der Nachweis erbracht, dass dieses Gemälde von Ferdinand Wagner geschaffen wurde. Da nur noch wenige Leinwandbilder von ihm erhalten sind, kommt diesem Gemälde eine große Bedeutung zu.
Der Historienmaler Ferdinand Wagner gehörte zu den führenden Malern der Prinzregentenzeit und ist eng mit der Geschichte der Neuburg verbunden. Er gehörte wie Franz von Stuck zu den Künstlern, die im Juli 1908 eine Petition an den Prinzregenten Luitpold zur Rettung der Neuburg unterschrieben haben.
Ferdinand Wagner, Ehrenbürger der Stadt Passau, besaß von 1890 bis 1907 die Veste Niederhaus als ständigen Wohnsitz, die er opulent mit Fresken aus der mittelalterlichen Geschichte ausmalte. Er ist Mitbegründer des Ilzer Haferlfestes.
Seine Ölgemälde im kleinen und großen Rathaussaal in Passau besitzen Weltruhm (1886-1890, wobei er sich an die Dekorationsformen des Dogenpalastes in Venedig und an Peter Paul Rubens orientierte (Einzug der Kriemhild, Hochzeit Kaiser Leopold I. mit Eleonore von Pfalz-Neuburg, Huldigung der Passauer Bürgerschaft an König Maximilian I. Joseph von Bayern nach dem Anschluss Passaus an das Königreich Bayern)
Abundantia ist in der römischen Mythologie die Personifikation des Überflusses. Sie ist Symbol des allgemeinen Wohlstandes und des Überflusses an Gütern. Sie hatte weder Tempel noch Altar, aber sie wurde auf Münzen und Denkmälern dargestellt. In der römischen Zeit wurde sie als blumenbekränzte Matrone dargestellt, die als Attribut stets ein Füllhorn voller Reichtümer hielt. Dieses soll sich nach griechischem Mythos von Zeus erhalten haben. Gelegentlich erscheint auch ein Ährenbündel. Abundantia schüttet mit ihrem Füllhorn Wohlstand und Glückseligkeit aus. In diesem Sinne steht Abundantia für Optimismus, für positive Erwartungen, für Segen und für das Beste für den Menschen. In der Zeit des Niedergangs des Römischen Reiches bis weit ins Mittelalter hinein blieb Abundantia als Verkörperung des Überflusses trotz fortschreitender Christianisierung in den Gedanken der Menschen als Domina Abundia (die reiche Frau) verhaftet. Sie entwickelte sich im Volksglauben zu einer feenhaften Gestalt der Nacht, welche Gedeihen über alles Vermehrbare der Natur und Reichtum in die Häuser brachte. Auch in anderen Kulturen wie der Indischen gibt es Gottheiten des Wohlstandes, nicht nur als Spenderin von Reichtum, sondern auch von geistigem Wohlbefinden, von Fülle und Überfluss. Im Mittelalter tritt sie als Sagengestalt auf und heißt Domina Abundia. Darin ist sie ein gütiges Wesen, das den Menschen Gedeihen und Überfluss bringt.
Das Gemälde von Ferdinand Wagner stellt eine Verherrlichung der Abundantia dar. Es ist ein Fest der Freude, das hier inszeniert wird. In diesem Gemälde wird der ganze Zauber glühender Farbgebung entfaltet, denn es gilt, die Natur in ihrer Lebensfülle und unerschöpflichen Fruchtbarkeit durch frohe Menschenkinder inmitten einer reichen Umgebung zu versinnbildlichen.
Ferdinand Wagner hat die Stimmung heiteren Genießens und blühender, jugendlicher Daseinsfreude, die aus dem Gefühl der Kraft und Gesundheit entsteht, aufs trefflichste getroffen.
Es ist eine belebte Komposition, die deutliche Anklänge an Paolo Veronese und Rubens und auch an den Wiener Makart (1840-1884) erkennen lässt, der 1870 bereits eine Abundantia gemalt hat.
Das Bild von Ferdinand Wagner hat eine sehr dekorative Wirkung.
Wir können rechts und links zwei Säulen erkennen, zwischen denen dieses Schauspiel stattfindet. Der Ausblick, den das Bild von der hohen, säulentragenden, mit Girlanden dekorativ geschmückten Loggia auf Himmel und Meer gestattet, führt den Beschauer von dem Menschlichen und Irdischen hinaus in die Unermesslichkeit des Himmels.
Das ganze Arrangement ist prunkend: die schweren Atlasstoffe, die Teppiche, das Tigerfell mit dem Tigerkopf und die kunstgewerblichen Gegenstände wie die dekorative Vase (unten links) und die silberne Gießkanne (unten Mitte). Der Reiz liegt im Kontrast der weichen, seidigen Fleischtöne zu der Mannigfaltigkeit der tiefen Farbentöne.
Die vier Nymphen und zwei Putten zeigen viel nackte Haut und rundliche Formen. Die rosige Frische der Haut verweist auf Gesundheit und körperliches Wohlergehen.
Die Abundantia zeigt ihre nackten Brüste, die die Schönheit, Form, Fülle verkörpern. Brust ist Quelle, bedeutet Versorgung. Die Mutterbrust trägt in sich das Potential für Leben. Die Brust ist körperlich und seelisch mit dem Leben spendenden Quell verbunden. Symbolisch ist die Brust der magisch-religiösen Stellung des Göttlichen verbunden. Für das Neugeborene ist die Brust Mutter und Leben, Überleben, Nahrung, Wärme und Zärtlichkeit zugleich. Brust ist Schöpferin und Erhalterin des Lebens. Die Brust repräsentiert den göttlichen Funken, aus dem das Elixier fließt. Bis Isis spendet die Milch Unsterblichkeit, bei Sophia Weisheit. Die mütterliche Bedeutung der Brust zeigt sich in der lateinischen Sprache: mamma bedeutet im Lateinischen Brust.
Die Brust drückt aber auch Macht und Stärke aus, aber auch Begehren aus. In der Hippie-Bewegung machten die jungen Frauen mit der nackten Brust Freiheit geltend. In der Protestbewegung entblößen die Frauen ihre Brüste als Zeichen des Protestes.
Alle Figuren tragen volle Haarpracht, offen oder zu einem Schopf gebunden, die ihre Schönheit, Fruchtbarkeit, Verführung und Anmut unterstreichen. Die Haarfarbe bei allen sieben Figuren ist flachsfarben golden oder dunkel. Golden erinnert an den Sonnengott Apoll, der sonnenartige Goldlocken trug. Der Weingott Dionysos hatte eine dunkele und ineinander verschlungene Haarpracht wie wilde Weintrauben.
Die Abundantia trägt einen Kranz aus Ähren in ihrem goldenen Haar. In der linken Hand hält sie einen Zweig, der gleichzeitig Blüten und Früchte trägt. Ähren und Zweig verdeutlichen Fruchtbarkeit.
Abundantia wendet sich mit ihrem Blick nicht dem Betrachter zu. Sie zeigt eine nachdenkliche Haltung, weich und träumerisch, wodurch das Bild eine seelische Vertiefung erhält: diese Abundantia, das Symbol der Fruchtbarkeit in der Natur, scheint in eine Betrachtung über das tiefe, unergründliche Mysterium vom Leben versunken zu sein. Da die vielen Rosen nicht mehr so frisch wirken, könnte ihre nachdenkliche Haltung auch mit der Vergänglichkeit von „Überfluss“ zusammenhängen.
Im Gegensatz dazu stehen die beiden Putten im oberen rechten Bildrand, die nichts anderes sind als fröhliche, spielende Kinder. Die beiden nackten Nymphen sind liebliche Mädchengestalten. In der griechischen Mythologie sind Nymphen weibliche Gottheiten, welche als Personifikationen von Naturkräften überall auftreten. Die Nymphen galten als wohltätige Geister der Berge, Bäume, Wiesen und Grotten. Sie schweifen umher, führen in überschäumender Freude Tänze auf, jagen das Wild, weben in kühlen Grotten, pflanzen Bäume und sind den Menschen auf verschiedene Weise hilfreich. Wenn Nymphen auf Gemälden wie bei Franz von Stuck vorkommen, geht es um Fruchtbarkeit und Sexualität. Neben den zwei Putten, die den oberen Bildbereich beherrschen, finden sich zwei Knaben im unteren Bildbereich, die an ihrer schwarzen Lockenpracht zu erkennen sind und den Weingott Dionysos verkörpern.
Die Gruppierung der Gestalten erweckt den Eindruck des Lebensvollen, Bewegten, eines freien Spiels der Kräfte; diese Bewegtheit wird ganz besonders durch die reizende Geschäftigkeit der Putten hervorgerufen, die in ihren Bewegungsmotiven, dem gegenseitigen Zureichen von Früchten einen geschlossenen Linienrhythmus bilden, der das Auge erfreut.
Die Putten sind Boten des Wunderbaren, Boten des Unerklärlichen, des Göttlichen. Seit der Antike gibt es geflügelte Wesen in Menschgestalt, die Vermittler und Boten zwischen Himmel und Erde sind. Sie können fliegen, was zu den ältesten Wunschbildern, Träumen und Mythen der Menschen gehört. Sie sind Personifikation jener unfassbaren Mächte, die der Mensch erlebt und die vom Himmel zu kommen scheinen. Die fliegenden Boten holen das, was der Himmel schickt, ins menschliche Empfinden herein.
Der geflügelte Götterbote Hermes, römisch Merkur, überbringt dem Menschen Botschaften der Götter. Er vermag zu zaubern und die Menschen ekstatisch zu verzücken. Er bringt die Menschen in schicksalhaften Situationen zusammen, er kann Glück und Wohlergehen stiften.
Der nackte Bogenschütze Eros ist die Verkörperung der zeugenden Kraft; er löst die Mächte und Triebe aus, er stiftet zu Liebe an, sein Wirken erregt, irritiert, beglückt, seine Pfeile tragen ein Gift, das Liebesekstase auslösen kann.
Der Kinderengel des Barock geht auf den antiken nackten Knaben Eros/amor zurück. Seit der Barockzeit bevölkern ganze Heere dieser Purzelbaum schlagenden, Schabernack treibender, drolligen Bürschchen unsere Kirchen und verrichten in aufreizender Natürlichkeit den himmlischen Jubeldienst. Die Putten sind Hauptdarsteller in der himmlischen Komödie. Sie sind bewegungshungrig und stellen ihre fleischliche Vitalität in den Dienst Gottes, sie jubeln, tanzen, sie purzeln am Altar herum, schwenken Girlanden und streuen Blumen.
In diesem barocken Sinne sind auch die beiden Putten im rechten oberen Bildrand zu sehen. Der obere Putto reicht einen Granatapfel seinem mit Blumenkränzen geschmückten Gefährten unterhalb.
Eine kleine Nymphe rechts in der Mitte hält in der Linken ebenfalls einen Granatapfel. Der Granatapfel schließt in seiner festen Schale viele süße Körner ein. Diese Frucht ist ein Symbol für Wohlstand und Fruchtbarkeit, zumal sie ein Attribut der Liebensgöttin Aphrodite/Venus ist.
Es könnten aber auch Quitten sein, die seit der Antike Symbol der Liebe und der Fruchtbarkeit sind. Möglicherweise waren die „Goldenen Äpfel“ Quitten, die die Hesperiden in ihrem Garten bewachten. Der griechische Geschichtsschreiber erwähnt, dass Solon im 7./6. Jahrhundert ein Dekret erlassen hatte, in dem der Braut nahegelegt wurde, sie solle zur Steigerung ihrer Fruchtbarkeit vor der Hochzeitsnacht eine Quitte essen.
Ganz vertraut miteinander sind auf der linken Seite eine Nymphe und ein Knabe mit schwarzen Locken. Die Nymphe trägt mit ihrer rechten Hand auf dem Kopf haltend einen Korb voll mit Früchten (Weintrauben, Birnen, Quitten). Ihre stützende linke Hand wird von der rechten Hand des Knaben gehalten, wodurch ihre körperliche Nähe zum Ausdruck kommt.
Der Knabe rechts unten liegt auf dem Kopf eines Tigerfelles und hebt gerade an, mit der rechten Hand aus dem Gießkanne Wein zu gießen. Er verkörpert mit seiner wilden dunkeln von einem Kranz Weintrauben umwundenen Haarpracht den Weingott Dionysos.
Betrachten wir die Vase, dessen Deckel unterhalb liegt. Vasen sind Behältnisse für wertvolle Dinge wie Wein oder Öl und symbolisieren Reichtum, Überfluss und Frieden.
Die vordere Seite der Vase ziert ein Gesicht. Es ist aber kein Maskaron, also ein grotesk oder schreckeinflößend gestaltetes Fratzengesicht oder ein menschenähnliches Antlitz eines Fabelwesens oder einer Gottheit. Es ist ein schönes, ebenmäßiges Gesicht.
Als Henkel können wir links eine Frauengestalt erkennen, oben nackt, unten mit einem Tuch bedeckt, die ihren gestreckten Rücken der Vase zuwendet. Den Kontrast bildet rechts ein Drache mit Flügeln, der mit seinen langen Füßen, die drei Zehen haben, die Vase zu besteigen scheint.