Der Kuß der Koi von Reiner Kunze-

Der Kuß der Koi von Reiner Kunze-

Auf der Brücke über den großen Teich zum Eingang in den Kurpark von Bad Füssing bleiben oftmals die Menschen stehen und blicken in das Wasser hinunter, wo sich unzählige Ko tummeln. Die Menschen können sich gar nicht sattsehen an der Farbenpracht, der exklusiven Eleganz und der Majestät dieser japanischen Farbkarpfen, die inzwischen auch in Deutschland eine große Gemeinde von Verehrern gefunden haben.

Der im Landkreis Passau wohnende Dichter Reiner Kunze hat diesen wohlgenährten Prachtexemplaren mit ihrem bunten Schuppenkleid fotografierend und schreibend mit seinem Bildband „Der Kuß der Koi“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat. (Der Kuß der Koi. Prosa und Photos. S. Fischer, Frankfurt am Main 2002).

Das königliche Weiß, das metallisch glänzende Rotorange, das tiefe Schwarz, das leuchtende Gelb – das Farbspiel ihrer Körpermuster fasziniert Kunze ebenso wie das gesellige Verhalten dieser japanischen Zierkarpfen.

Um neben das reflektierende Wort das Bild stellen zu können, hat Reiner Kunze vier Jahre die Koi mit dem Auge und mit der Kamera beobachtet und ihnen abgelauscht, was sie bewegt – er hat aber auch entdeckt, was ihn bewegt beim Anblick der Majestät der Fische.

„In einem Winkel der Welt weiß ich einen Teich, und in dem Teich euch, die Koi. Meine Koi, denn wir haben einander gezähmt.Der Teich ist mein Tisch, wenn es mich an keinem Tisch mehr hält. Auf ihm breite ich aus, was kaum noch zu ertragen ist, und ihr, die Koi, streicht durch, streicht durch, streicht durch. Ich sitze vor eurem Teich wie der Bettler vor seiner Schale. Die Vögel werfen ihre Schatten hinein und die Wolken ihr Bild. Die Sonne, wenn sie vorüberkommt, gibt meist reichlich, und ihr Koi vervielfacht, was sie gibt. Doch bettle ich mich nur selbst an und zähle, was ich noch geben kann.“ (Kuß der Koi, Rainer Kunze).

So hat Kunze Porträts von seinen Koi geschaffen, die den einzelnen Fisch in seiner Individualität und Würde zeigen. Die faszinierenden Fotos der Fische muten wie grandiose Gemälde an, lebendige, einmalige Kompositionen, die auch das Staunen des beobachtenden Dichters mit der Kamera ausdrücken.

So nimmt der Dichter nimmt die Koi zum Anlass, um über die Kreatürlichkeit des Menschen nachzudenken. Der Autor spricht von ihnen als von seinen „Verbündeten“. Jene Menschen, deren Seele nicht in einem „Panzerhemd“ steckt, werden diese Fische als Verbündete empfinden.

Das stundenlange und tagelange Warten an seinem häuslichen Teichrand, um zu einer Aufnahme, zu einem individuellen Porträt eines Koi zu kommen, habe ihm beinahe den Verstand geraubt, sagt Kunze. Aber die Prozedur gelte etwas Schönem: „Wenn Sie fragen würden, was mich dazu bewogen hat, vier schon relativ späte Lebensjahre in dieses Buch zu investieren, würde ich Ihnen nicht nur sagen, Schuld waren die Fische; auch nicht nur, Schuld war das Zusammenleben mit diesen Fischen – die Jahre, seit ich mit diesen Fischen zusammenlebe, waren zwar Jahre des Staunens, der Ver- und Bewunderung und des zwangsläufigen Nachdenkens über unsere eigene Kreatürlichkeit und über unseren Gattungshochmut. Es waren Jahre, soweit sie Teichzeit waren, voller bezaubernder melancholischer Augenblicke.“

Was Kunze unter Schönheit versteht, wird an seinen kurzen Texten deutlich, die wie seine Fotografien zu innerer Sammlung, Nachdenklichkeit und Philosophie einladen:

„Ich kann mich an den Tieren nicht satt sehen, das sind wunderschöne Wesen. Da ist der Natur in Gemeinschaft mit den Menschen wirklich was ganz Außerordentliches gelungen. Es gibt Exemplare, die könnten von Miró oder sonst jemand gezeichnet sein, von den ganz großen modernen Künstlern.“

„Das Weiß des weißen Koi – ein makelloses spiegelndes Schneeköniginnenweiß! Ein Weiß, das weiß-trunken macht und farbensüchtig zugleich. Schwimmt ein Rot vorüber, überzieht den Fisch ein Blütenschimmer, als sei er ein rosablühender Bauernrosenstrauch, und dem Gelb im Schwarm wirft er Hunderte winziger Zitronenechos zu.“

„Die Koidame mit dem mondänen schwarzen Blitz im Tüllschleier vor den Augen scheint einer Boutique von Dior entschwommen zu sein. Ihr Kleid ist von exklusiver Eleganz. Ich nenne sie die Pariserin.“

„Das Marienkäferrot des Koi mit dem schwarzen Punkt auf der Oberlippe – kein Rot des Sommers könnte es an Pracht überbieten! Der schwarze Punkt erinnert an das ‚Ja-nein, Ja-nein‘ der Kinder, die abzählen, ob der Marienkäfer ihnen Glück bringt, und die, wenn ein ‚Nein‘ herauskommt, in umgekehrter Reihenfolge von vorn beginnen. Mir genügt der eine Punkt, denn ich beginne mit ‚Ja‘.“

„Und was haben die stummen Koi nicht alles zu sagen: „Nie sah ich einen Koi einen Koi angreifen, nie einen Koi vor einem Koi fliehen. Jede Art Regung, die als feindselig empfunden werden könnte, scheint eurem Wesen fremd zu sein. Euer Dasein ist ein ruhiges Aufeinanderzu und Aneinandervorüber, ein Unter und Über, Hin und Her von Farben und wohlgenährten Leibern, und wenn ihr flieht, flieht ihr zueinander. Die Fische bewegen sich nach eigenen Gesetzen; der Mensch könnte etwas von ihnen lernen: die Friedfertigkeit.“

Biographie

Reiner Kunze gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker der Gegenwart. Er erhielt für sein umfassendes lyrisches, essayistisches und erzählendes Werk zahlreiche deutsche und internationale Literaturpreise, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Georg-Trakl-Preis und den Friedrich-Hölderlin-Preis. Seine Lyrik und Prosa wurden in dreißig Sprachen übersetzt.

Reiner Kunze wurde am 16. August 1933 in Oelsnitz im Erzgebirge geboren. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie. Er studierte von 1951 bis 1955 Philosophie und Journalistik an der Universität Leipzig. Von 1955 bis 1959 ist er dort wissenschaftlicher Assistent mit Lehrauftrag; diese Arbeit muss er allerdings aus politischen Gründen abbrechen. Von da an arbeitet er als Hilfsschlosser. Als Kunze aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings sein SED-Parteibuch zurückgibt, gilt er den DDR-Oberen als Staatsfeind. Kunze arbeitet zu der Zeit als freiberuflicher Schriftsteller und lebt in Greiz in Thüringen. Besonders mit seiner Lyrik wird Kunze in der DDR bekannt. Spätestens mit seinem systemkritischem Prosaband „Die wunderbaren Jahre“ gerät er in Konflikt mit dem SED-Regime.

Nach zahlreichen Schikanen, Publikationsverbot, einem gesundheitlichen Zusammenbruch aufgrund fortgesetzter Bedrohung und 1976 dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR, verlässt der Kunze 1977 mit seiner Frau Elisabeth und der Tochter Marcela die DDR. 1988 und 1989 arbeitet Kunze als Gastdozent für Poetik an den Universitäten München und Würzburg. 1992 lässt sich Kunze in Erlau (Markt Obernzell) bei Passau nieder. 2006 gründet Kunze die Reiner-und-Elisabeth-Kunze-Stiftung.